Wie du als introvertierter, feinfühliger Mensch auf stimmige Weise für deine Überzeugungen und Bedürfnisse einstehen kannst
Vielen sensiblen Menschen fällt es nicht leicht, für ihre Überzeugungen und Bedürfnisse einzustehen, wenn sie sich ungerecht behandelt, ausgenutzt oder übergangen fühlen. Allein die Vorstellung, mutig für sich einzutreten und anderen deutlich zu machen, was wir für richtig und wichtig halten, kann uns in eine Art Schockstarre versetzen und mehr oder weniger handlungsunfähig fühlen lassen. Dann einen klaren Gedanken zu fassen, ist schwer bis unmöglich. Doch es gibt Wege, wie wir auf unsere Weise leichter für uns einstehen können…
Inhalt:
1 Gute Ratschläge helfen selten, leichter für sich einzutreten
2 Leise Stärken Sensibler & Introvertierter
3 Warum sensible Menschen eigene Wege brauchen, um besser für sich selbst einzustehen
4 Was heißt überhaupt „selbstbewusst“?
5 Die Geburt von Vergleich und einschränkendem Selbstbild
6 Als introvertierter Mensch seine leisen Stärken erkennen - Erkennen, wer du wirklich bist
7 Sensible Menschen schätzen Verständnis und echte Anteilnahme. Was tut dir gut? - Impuls
8 Was hindert uns daran, für uns selbst und unsere Bedürfnisse einzustehen?
9 Du brauchst nicht anzugreifen, um für dich einstehen zu können
10 Deine leisen Stärken nutzen, um innere Klarheit zu finden
Gute Ratschläge helfen selten, leichter für sich einzutreten
Gut gemeinte Ratschläge und Binsenweisheiten von der Art wie „Du hast doch gar keinen Grund, nicht selbstbewusster zu sein“ oder „Du musst lernen, dir nicht alles gefallen zu lassen“, machen es nicht unbedingt leichter, mutig für die eigenen Überzeugungen oder Bedürfnisse einzutreten. Wenn es so einfach wäre, hätte man es ja längst umgesetzt. Solche Aussagen tragen nicht dazu bei, dass man sich als empfindsamer Menschen verstanden fühlt. Eher verstärken sie noch das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein, wie man ist.
Denn in einer Gesellschaft, in der vor allem diejenigen beachtet werden, die sich auffällig in Szene setzen, wird zurückhaltenden, sensiblen Menschen das Gefühl gegeben, dass sie eigentlich auch so sein sollten. Dass alle diesem Ideal gerecht werden sollten, das der Natur Sensibler aber widerspricht.
Von einer Schildkröte erwarten wir auch nicht, dass sie schnell ist wie ein Hirsch.
Leise Stärken Sensibler & Introvertierter
Weisheit und Geduld, die man der Schildkröte nachsagt, sind nicht offenkundig wie das erhabene, dynamische Auftreten des Hirschs, für den sein Rang in der Gruppe wichtig ist.
Inhaltlich könnten alle viel mehr von dem profitieren, was empfindsame Menschen wahrnehmen und beitragen könnten. Aber da offensivem Auftreten mehr Bedeutung beigemessen wird, suggeriert das zurückhaltenden Menschen, dass andere besser seien als sie. Das ist eher verunsichernd statt anspornend.
Warum sensible Menschen eigene Wege brauchen, um besser für sich selbst einzustehen
Sich vorzunehmen, beim nächsten Mal mutiger zu sein und zu sagen, was angebracht wäre, gelingt auch nur selten. Schon die Befürchtung, es könnte nicht gelingen, ist sehr hemmend. Und wenn es dann so ist, wirkt das eher noch frustrierender: die eigene „Schwäche“ scheint wieder bestätigt zu werden. Statt offensiver brauchen empfindsame Menschen eher andere Wege, die für sie stimmig sind, um für sich einzustehen – mit ihren inneren Stärken.
Was das bedeutet, dazu will ich erstmal etwas ausholen:
Was heißt überhaupt „selbstbewusst“?
„Selbst-bewusst“ sagt im wahrsten Sinne des Wortes doch aus, dass eine selbstbewusste Person sich ihrer selbst bewusst ist. Es hat also mit Bewusstsein zu tun. Meistens verbinden wir den Begriff Selbstbewusstsein mit Eigenschaften wie Dynamik, Durchsetzungskraft und Siegermentalität. Doch die sagen nichts über Bewusstsein aus; dahinter verbirgt sich sogar sehr häufig gar kein (Selbst-)Bewusstsein.
Hinter scheinbarer Selbstsicherheit verbirgt sich oft Mangelempfinden.
Sich seiner selbst bewusst zu sein, heißt doch nichts anderes, als sich selbst wirklich zu kennen* – mit allen scheinbaren „Unvollkommenheiten“ und sie, bzw. sich, zu verstehen. Und Gefühle der Unvollkommenheit kennen wir nahezu alle. Sie lassen sich kaum vermeiden in einer Gesellschaft, in der wir einander ständig vergleichen, aneinander gemessen werden, aber damit die Individualität und Wahrnehmung des einzelnen Menschen weitestgehend übergehen. So sehr, dass kaum bewusst auffällt, dass es so ist.
Die Geburt von Vergleich und einschränkendem Selbstbild
Vergleich, Wettbewerb und bestimmte Erwartungshaltungen an uns erfahren wir schon ganz früh in unserem Leben. Schon bei Babys wird verglichen, welches als erstes krabbelt, läuft und Zähne bekommt. Oder es fühlt sich abgelehnt, wenn sein Schreien als störend empfunden wird, um nur ein paar frühe Erfahrungen zu nennen, die fast jede*r mal erlebt hat.
Kinder bekommen so etwas mit, sie haben noch ganz feine Antennen dafür. Sie können es nicht verstehen, aber es verursacht das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein, wie man ist. Solche prägenden Eindrücke beeinflussen unser weiteres Leben mehr, als uns bewusst ist.
Introvertierte und Extrovertierte gehen unterschiedlich mit ihren prägenden Erfahrungen um.
Introvertierte eher, indem sie Schutz durch Rückzug und Nicht-Auffallen suchen. Eine „programmierte" Verhaltensstrategie, die bei ihrer Entstehung einmal nützlich war. Die es aber auch schwerer macht, für sich selbst einzustehen, wenn es sinnvoll wäre.
Extrovertierte gehen mit ihren verletzenden Erfahrungen eher umgekehrt – aktiv - um, durch mehr oder weniger offenes Aneinander messen und sich auf irgendeine Weise von der Menge Abzuheben. Das wird als selbstbewusst angesehen.
Mangelgefühle erkennen
Wenn wir aber Beachtung und Bewunderung von außen zu brauchen, um uns wertvoller zu fühlen, dient das vor allem dazu, schmerzliche Gefühle von eigener Unvollkommenheit auszugleichen. Das fällt aber nicht (oder nur selten) auf, da es in unserer Gesellschaft als erstrebenswerte Eigenschaft angesehen wird, so aufzufallen. Diesen „Vorteil“ haben Introvertierte nicht.
Wenn wir uns durch die Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer besser fühlen, nehmen wir unsere seelische Wunden weniger wahr. Sie nicht mehr so präsent, aber weg sind sie dadurch nicht. Irgendwann zeigen sie sich meist wieder auf andere Weise. Aber…
egal, wie wir mit unseren seelischen Verletzungen umgehen:
das negative Selbstbild, das sie verursachen, entspricht nicht unserem eigentlichen, wahren Selbst!
Und sensible Menschen haben mit ihrer intensiven Wahrnehmungsfähigkeit besonders gute Voraussetzungen, wieder dorthin vorzudringen.
Als introvertierter Mensch seine leisen Stärken erkennen
Denn empfindsame Menschen haben auch als Erwachsene noch feine Antennen und eine intensive Wahrnehmung. Die ausgeprägte Fähigkeit Introvertierter, nach innen zu gehen, kann ihnen Wege eröffnen, ihre Wunden zu erkennen und zu verstehen. Ein für sie wohl stimmigerer Weg, statt offensiv vorzugehen, was ihrem Naturell entgegensteht. Und, es schafft die Voraussetzung, seelische Wunden auch zu bewältigen, statt zu überdecken.
Diese wertvolle Fähigkeit ist sensiblen Menschen selbst oft nicht bewusst, wenn ihre Selbstzweifel sie daran hindern. Denn ihre intensive Wahrnehmungsfähigkeit wird von weniger sensiblen Menschen (neben der „Schwäche“ der Zurückhaltung) oft als Überempfindlichkeit, statt kostbarer Eigenschaft, angesehen.
Erkennen, wer du wirklich bist
Wenn wir uns selbst so skeptisch sehen, wäre also hilfreich, zu erkennen, was für ein wunderbares wahres Selbst sich dahinter verbirgt. Zu erkennen, wer wir wirklich sind und eigentlich wären, wenn es keine Beeinflussungen von außen gäbe und gegeben hätte. Prägende Erfahrungen sitzen tief. Denn...
eine negative Selbstwahrnehmung entspricht zwar nicht der Wahrheit, aber es fühlt sich so echt an, dass wir diesen Empfindungen meistens glauben - Glaubenssätze, die uns nicht gut tun.
Sensible Menschen schätzen Verständnis und echte Anteilnahme. Was tut dir gut?
Andere können oft nicht nachvollziehen, wie wir empfinden. Umso wichtiger, dass wir selbst auf uns achten und gut mit uns umgehen.
Das können wir am besten, wenn wir in uns hineinspüren.
Dem Naturell sensibler Menschen kommt der Weg nach innen, des Verstehens, eher entgegen, als offensiv etwas zu erzwingen, das andere für richtig halten, wohinter wir aber nicht wirklich stehen.
Wenn du wieder eine Situation erlebt hast, in der es dir schwergefallen ist, für dich selbst einzustehen, nimm dir in Ruhe Zeit nur für dich, um in dich hinein zu spüren, sobald du dazu die Möglichkeit hast.
Impuls:
Um deine eigenen Empfindungen und Reaktionen besser zu verstehen, kann es sehr hilfreich sein, dich in das Kind hineinversetzen, das du warst, als es seine ersten verletzenden und prägenden Erfahrungen gemacht hat. Vielleicht so:
Versetze dich in die letzte Situation, in der du nicht den Mut gefunden hast, für dich einzustehen. Wie hast du dich gefühlt? Nimm die Gefühle, die du in diesem Moment hattest, wahr: es sind dieselben Gefühle, die du als Kind in prägenden Situationen empfunden hast. Dir das bewusst zu machen, kann schon helfen, mehr Verständnis für dich zu entwickeln.
Mit diesen Fragen kannst du noch einen Schritt weiter gehen:
Wie würdest du aus deiner Erwachsenensicht heute für dieses Kind empfinden? Was würdest du gerne für es tun, damit es ihm besser geht?
Vielleicht es schützen? Ihm Mut zusprechen?
Es bestärken, dass die Erwachsenen nicht recht haben müssen?
Vielleicht würdest du ihm gerne sagen, dass es dir leidtut, dass es so leiden muss.
Und dass ihm auch Rechte zustehen (auch wenn die Erwachsenen sie übergehen).
Spüre in dich hinein. Wie fühlt es sich für dich an?
Was hindert uns daran, für uns selbst und unsere Bedürfnisse einzustehen?
Ob es nun die Familie ist, die Erwartungen an uns stellt, mit denen wir uns unwohl fühlen, der/die ChefIn oder jemand anderes: Dominantere Menschen haben nicht automatisch auch recht.
Wenn wir glauben, uns unterordnen zu müssen, machen wir uns selbst klein.
Du bist nicht weniger wert als sie! Mach dir das bewusst.
Stelle dir am besten die Frage: Hat der andere wirklich recht?
Bei den eigenen Eltern kann das manchmal besonders schwer fallen. Durch sie ist die Weise, wie wir uns selbst wahrnehmen, einmal entstanden. Die Erwartungen, die sie möglicherweise an uns stellen, lassen uns schnell wieder in die Empfindungen unserer Kindheit fallen. Die nicht immer erfüllte Sehnsucht nach ihrer Liebe und Anerkennung (bzw. was wir tun mussten, um sie zu bekommen), kann sich auch heute noch auswirken - auch auf unsere Beziehungen.
Unsere Eltern waren die ersten, die uns beigebracht haben, wie die Welt „funktioniert“, was „richtig“ oder „falsch“ ist, gut oder schlecht, wichtig oder nebensächlich. Als Kind hatten wir keine Wahl, aber heute müssen wir ihrer Sicht der Dinge nicht mehr um jeden Preis folgen. Gerade, wenn wir spüren, dass sie uns nicht gut tut. Eltern haben nicht automatisch recht oder das Anrecht, dass ihre erwachsenen Kinder noch tun, was sie von ihnen erwarten.
Wir haben vor allem eine Verantwortung für uns selbst. Das darfst du dir bewusst machen! Das bedeutet ja nicht, dass wir jemanden im Stich lassen müssen. Wie wir das tun, dürfen wir selbst entscheiden.
Du brauchst nicht anzugreifen, um für dich einzustehen
Sensible Menschen leben am liebsten in Ruhe und in Harmonie mit ihren Mitmenschen. Für dich einzustehen, bedeutet nicht, nicht respektvoll mit deinem Gegenüber umzugehen. Aber es bedeutet eben auch nicht, den anderen über dich zu stellen. Vielleicht geht es dir besser damit, wenn du deinem Gegenüber erklärst, wie du dich fühlst und aus welchen Gründen du etwas ablehnst oder nicht mehr machen möchtest.
Mach dir deine Beweggründe ganz bewusst und übe das am besten vorher im Selbstgespräch oder inneren Dialog mit dir selbst.
Deine leisen Stärken nutzen, um innere Klarheit zu finden
Das hilft dir, mehr innere Klarheit zu bekommen und dich sicherer zu fühlen. Auch alles aufzuschreiben, kann dir dabei helfen. Gehe dabei wohlwollend und verständnisvoll mit dir um, wie du mit einer guten Freundin oder einem guten Freund umgehen würdest. Und stell dir vor, wie gut es sich anfühlt, wenn du für dich eingestanden bist!
Fühlen ist viel wichtiger, als wir annehmen: durch unser Fühlen können wir positive Erfahrungen besser in uns verankern.
Setz dich nicht unter Druck
In der direkten Konfrontation mit anderen wirst du vielleicht trotzdem noch unsicher sein und im Gespräch nicht alles so gelingen, wie du dir das wünschst. Mach dir dann keine Vorwürfe, die setzen dich nur mehr unter (unnötigen) Druck. Aber…
wenn du immer wieder erneut in Kontakt mit dir selbst gehst und in dich reinspürst, kann sich wie im Inneren auch nach und nach im Außen etwas verändern.
Mach dir auch bewusst: Wer dich nicht respektvoll behandelt, hat selbst Mangelgefühle, die er glaubt, kompensieren zu können, indem er andere klein macht.
Wer in sich klar ist und in sich ruht, strahlt das aus und hat es nicht nötig, sein Gegenüber anzugreifen und wird auch nicht so schnell angegriffen.
Kurz gesagt:
Mit Klarheit im Inneren kann sich allmählich, im eigenen Tempo, die Haltung nach außen ändern, ohne etwas erzwingen zu müssen, was uns widerstrebt. Sich selbst zu spüren und zu verstehen, macht es leichter, Mut zu finden. Je näher wir zu unserem wahren Selbst zurückfinden, umso mehr.
Wenn sensible Menschen die Möglichkeiten ihrer intensiven Wahrnehmungsfähigkeit erkennen und nutzen, könnten sie damit letztendlich sogar auch anderen helfen, ihre seelischen Verletzungen zu verstehen, die keine so ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit haben. Erkenne wie wichtig deine besonderen Eigenschaften sind: Du kannst stolz auf sie sein!
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Dann schau dir gerne auch meinen Gastartikel “Bewusstsein ist leise: Warum die Fähigkeiten Introvertierter gebraucht werden” auf “still & sensibel” an.
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